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„Wer Il Trionfo erlebt, der möchte mehr davon“

Konzertdesigner Folkert Uhde über Schönheit und Vergänglichkeit und den Triumph der Musik

Il Trionfo del Tempo e del Disinganno, Der Triumph von Zeit und Erkenntnis, heißt das Eröffnungskonzert der diesjährigen Festspiele und ist eigentlich ein Triumph der Musik, sagt Folkert Uhde. Der Konzertdesigner hat aus den beiden großen und durchaus aktuellen Themen des Oratoriums, Schönheit und Vergänglichkeit, eine Licht- und Video-Inszenierung entwickelt. Im Interview spricht er über seine Arbeit und ihr Ziel, über Aufmerksamkeit und das Brückenbauen.

Herr Uhde, Sie inszenieren das Eröffnungskonzert der diesjährigen Internationalen Händel-Festspiele Göttingen. Mit Il Trionfo del Tempo e del Disinganno hören wir das erste Oratorium von Georg Friedrich Händel – was dürfen wir erwarten?

Als ich mich mit Il Trionfo zum ersten Mal beschäftigt habe, hat mich dies sehr berührt: Da ist der 22-jährige Händel, der überwältigt von seinen Eindrücken in Italien ein Werk über Zeit und Vergänglichkeit komponiert. Dabei schafft er musikalische Bilder, die ich in Göttingen visualisiere. Ich versuche über die Videoebene bestimmte Assoziationen hervorzurufen, zum einen, und zum anderen, Momente in der Live-Performance zu zeigen, die das Publikum so nicht bemerkt. Dabei werden vorproduzierte Sequenzen, aber auch live gedrehte Einspielungen gezeigt, etwa wenn ein Sänger mit dem Organisten musikalisch kommuniziert. Wir bieten also neue und ergänzende Blickwinkel an.

Sie sind Konzertdesigner, Sie entwickeln multimediale Inszenierungen, die die Musik für das Erleben durch unsere übrigen Sinne öffnen. Das klingt großartig, es stellt sich aber doch die Frage: Wie langweilig finden Sie eigentlich gewöhnliche Konzerte?

(Lacht.) Mir geht es darum, dass die Musik im Zentrum steht. Und ich geh nicht davon aus, dass die Musik langweilig ist! Sondern davon, dass wir durch unsere Arbeit andere Zugänge schaffen können, anbieten können, die über das reine Hören hinausgehen. Bei dem, was ich als Konzertdesign bezeichne, geht es erstmal um einen Prozess mit offenem Ausgang. Ich will beim Kern der Musik bleiben und mich fragen: Was ist da eigentlich drin und was können wir mit einfachen Mitteln tun, um die Erzählung und ihren emotionalen Gehalt zu vermitteln?

Was können wir also tun?

Es geht mir nicht darum, einen Sänger, eine Sängerin in Großaufnahme zu zeigen, wenn sie singt. Eine bloße Verdopplung ist nicht der Sinn der Sache. Was aber interessant sein kann, besonders bei Il Trionfo, weil es dialogisch angelegt ist: Denjenigen oder diejenige zu zeigen, die angesprochen wird. Die reden ja eigentlich die ganze Zeit miteinander, versuchen sich zu überzeugen. Der Fokus des Publikums liegt aber normalerweise bei der singenden Person. Wir zeigen die angesprochene Person, die Reflektion, die Resonanz, die die Musik auslöst.

Jedes Mal wenn ich mir das Video angucke, krieg ich Gänsehaut.

Mir geht es darum, andere Zugänge zu schaffen und andere Rezeptionsmöglichkeiten. Weil es ein anderes Publikum ist. Wir reden bei Il Trionfo über eine Privataufführung in einem Kardinalspalast, bei der wir davon ausgehen können, dass da nur die „bessere“ Gesellschaft war. Männer in der Regel, vielleicht ausschließlich, wohlhabend, umfassende Bildung, humanistischer Hintergrund. Bis auf Händel waren wahrscheinlich alle Italiener. Ein Publikum, das etwas mit Allegorien, mit Mythologie anfangen konnte-. Und das sind alles Dinge, die wir heute nicht voraussetzen können und wollen.

Und das führt zum Konzertdesign? Das hat Sie zum Konzertdesign geführt?

Das war wirklich ein langer Prozess. Ich glaube, es ist einfach eine grundsätzliche Disposition, dass ich mich nur ungern langweile. Ich muss dazu sagen, dass ich elf Jahre lang ein Alte-Musik-Orchester gemanagt habe. Ich bin mit ihnen auf der ganzen Welt auf Tournee gewesen und habe oft acht, zehn, zwölf Konzerte hintereinander gehört. Und wenn man immer den Vergleich hat, immer die gleichen Stücke hat, dann fängt man natürlich an, das zu reflektieren. Und sich zu fragen: Was war gestern anders als heute und was ist heute anders als vor drei Tagen? Der Raum? Die Atmosphäre? Die Menschen? Das Spiel? Das war manchmal so krass unterschiedlich, dass ich angefangen habe, darüber nachzudenken: Was sorgt eigentlich dafür, dass ich besonders konzentriert bin, dass ich mich besonders gut einlassen kann, dass ich eine Verbindung zu der Musik spüre, dass ich davon auch gerührt bin?

Und da hilft, glaube ich, diese Art von Inszenierung, die ich mache. Weil da zusätzliche Ankerpunkte gesetzt werden, die einem Publikum ermöglichen, wirklich einzusteigen. Und das ist eigentlich mein Ziel, das macht mich am glücklichsten, wenn ich merke, die Leute steigen wirklich ein und es gibt totale Aufmerksamkeit für das Eigentliche.

Es geht auch um Aufmerksamkeit. Wenn man die Aufmerksamkeit des Publikums nicht hat, ist man auch als Performer nicht da, wo man sein könnte. Dabei ist es egal, ob Sie auf der Bühne Geige spielen oder einen Vortrag halten. Solange man beschäftigt ist, um Aufmerksamkeit zu ringen, ist man nicht frei das Eigentliche zu machen. Ich habe immer wieder die Erfahrung gemacht, dass diese Art von Arbeit, also gerade auch das, was bei Il Trionfo passiert, den Musiker:innen auf der Bühne extrem hilft. Beim Fokus hilft. Dabei, sich gegenseitig zuzuhören, dabei, in eine andere Art von Flow zu kommen. Viele Dinge, die ganz nebenbei passieren und dazu führen, dass die Aufführung insgesamt intensiver wird oder intensiver wahrgenommen wird. Davon bin ich fest überzeugt.

Was für Momente entstehen durch Ihre Arbeit? Haben Sie ein Beispiel?

Also einer der intensivsten Momente überhaupt war mal bei einem Projekt über die Matthäus-Passion von Bach. Das war in Österreich, bei meinem Festival „Montforter Zwischentöne“. Und zwar haben wir die Matthäus-Passion in einen Kontext des Widerstehens gestellt, nicht nur der Sünde, sondern auch zum Beispiel in Form von Zivilcourage. Am Ende geht es um zwei Themen, die wir im Alltag nachvollziehen können: Das eine ist die Abwesenheit von Zivilcourage, also dieses typische „Ich sag nichts“. Oder im Extremfall „Ich brüll mit“, wie in der Matthäus-Passion, wenn der Mob schreit: „Bring ihn um! Bring ihn um!“ Vorher wird ausführlich erzählt, wie das zustande gekommen ist und dass dabei Fake News eine Rolle spielen, wie man heute sagen würde. Es gibt in der Matthäus-Passion diesen schönen Choral, ich nenn ihn immer den Fake-News-Choral. (Rezitiert:) „Mir hat die Welt trüglich gericht' /mit Lügen und mit falschem Gedicht, / viel Netz und heimlich Stricke, / Herr, nimm mein wahr in dieser Gefahr, / behüt mich für falschen Tücken.“ Das ganze Tableau ist also da und du siehst, zu welcher Katastrophe es da kommt, nämlich zum Tod am Kreuz. Und die andere Seite, die ich in der Matthäus-Passion so wahnsinnig berührend finde, gipfelt in diesem Choral: „Wenn ich einmal soll scheiden / so scheide nicht von mir.“ Die Urangst des Menschen im Moment des Todes allein zu sein.

Das ist, was auf Instagram oder in den ganzen anderen Netzwerken passiert.

Ich habe eine Videoinstallation gemacht im Eingangsbereich zu diesem Konzert, und Menschen, die hinterher auf der Bühne zu sehen waren, befragt über Alltagserfahrungen mit fehlender Zivilcourage. Da kommt schnell viel zusammen: Wo bin ich nicht eingeschritten? Wo habe ich nicht meine Stimme erhoben? „Ich ärgere mich heute noch darüber.“ „Ich schäme mich dafür.“ In der Pause hab‘ ich ein Interview gemacht mit einem lokalen Historiker, der zwei regionale Geschichten aus dem Dritten Reich über Zivilcourage erzählt hat. Zum Abschluss der Pause habe ich angekündigt, dass es im zweiten Teil eben um diese Urangst, diese Einsamkeit des Menschen geht und dass wir das Publikum deshalb einladen, diesen Choral mitzusingen. Den Text konnte ich einblenden. Den Choral hat der Dirigent zweimal gemacht, einmal mit Chor und Orchester, dann hat er sich umgedreht und der ganze Saal hat mitgesungen. Und wir wussten ja nicht, ob das passiert. Es hätte sein können, dass keiner mitsingt. Das war wirklich unglaublich, wie einstudiert. So völlig selbstverständlich. Ich saß da, neben dem Lichtpult, habe die ganzen Cues und Kommandos gegeben. Ich habe da mittendrin gesessen und habe geheult, es hat mich so überwältigt. Auch dass klar war, es haben jetzt wirklich alle verstanden. Und jedes Mal immer noch, wenn ich mir das Video angucke, krieg ich Gänsehaut. Die, die dabei waren, reden heute noch davon.

Das ist beeindruckend. Und klingt fast religiös als Erfahrung, nicht nur inhaltlich, klar, sondern auch in der Form. Ich muss jetzt aber eine ganz ketzerische Frage stellen: Warum ist das wichtig?

Mir persönlich ist das wichtig, weil mir die Musik wahnsinnig wichtig ist. Ich habe Jahre lang Kurse gemacht zum Beispiel mit Studierenden der Kulturwissenschaft, wo ich festgestellt hab, es gibt wenige Brücken zwischen den sehr wenigen, die mit klassischer Musik aufgewachsen sind und die das schätzen und hochhalten, und denen, die das nicht erlebt haben. Wenn du keine Folie hast, mit der du irgendwas vergleichen kannst, wie willst du dann die eine Aufführung mit der anderen vergleichen? Du hast einfach keine Chance. Es gibt eine ganze Reihe von Argumenten, die nur vor dem Hintergrund bestimmter Erfahrungen funktionieren.

Es gibt Vorurteile, Leute, die sagen: Das ist mir alles zu steif, ich versteh das nicht, ich will das nicht verstehen. Was damit zusammenhängt, dass viele Leute die Kunstmusik sehr hochhängen, außer Reichweite sozusagen. Nicht ohne Grund, es ist ja auch alles etwas komplizierter. Aber damit gewinnt man natürlich keinen, sondern schreckt eher ab. Und ich versuche, diese Brücken zu bauen. Ich find es toll, wenn es gelingt, mit meiner Art von Arbeit Menschen zu erreichen, die diesen Hintergrund der klassischen Musik nicht haben oder die immer gedacht haben, das sei nicht für sie. Wenn die dann auch ein tolles Erlebnis haben, alle gemeinsam, da freu ich mich wahnsinnig.

Sie empfehlen besonders Il Trionfo als Einstieg in die Musik von Händel. Warum?

Es ist ein absolutes Meisterwerk. Mit 22 geschrieben, ein Jugendwerk. Händels eigener Einstieg in seine Musik sozusagen. Ein wirklich genialer Wurf, was man schon daran sieht, dass er viele Stücke mehrfach recycelt hat im Laufe seines Lebens. Was er da geschrieben hat, ist eigentlich der Triumph der Musik. Er muss irgendwie geahnt haben, dass das ewig bleibt, und genauso ist es gekommen. Diese Chuzpe, ein Stück einfach aufhören zu lassen nicht nochmal am Schluss mit Pauken und Trompeten, Rums, Rums, Rums, alles nach vorn, maximale Aufmerksamkeit zum Aufwecken für alle. Das ist ja an Zartheit kaum zu übertreffen, diese letzte Arie. Die löst sich ja quasi selber auf in die Luft. Und schwebt irgendwo hin. Zu den Göttern. Was auch immer. Und wenn man sich dann noch vorstellt, dass es nicht irgendein Provinzgeiger gefiedelt hat wie zum Beispiel so ein Stadtpfeifer bei Bach. Der Typ, für den Händel die Arie geschrieben hat, war Arcangelo Corelli, der berühmteste Geiger der Welt zu der Zeit. Und man mag sich nicht vorstellen, was der gemacht hat mit dieser Arie. Also man merkt schon: ich finde es einfach umwerfend das Ding. Und es kommt eben aus ohne Nebenstory, ohne Verwicklung, wie das in den Opern ist. Da geht es wirklich um das Wesentliche.

Man hat das Gefühl: das ist eigentlich auch unendlich.

Und das Thema ist aktueller denn je. Obwohl wir uns mit Zeit und Vergänglichkeit, mit Sterblichkeit nicht viel befassen, weil wir das „outgesourct“ haben, tun wir die ganze Zeit doch nichts anderes als Momente festhalten und irgendwie daran verzweifeln, dass diese Schönheit vergeht: das ist, was auf Instagram oder in den ganzen anderen Netzwerken passiert. Wo es eigentlich nur noch darum geht, uns darum geht, das schönste Foto zu zeigen oder die schönste Version des eigenen Lebens. Und damit geht dieses Stück los. Diese ganze erste Szene mit der Schönheit und dem Vergnügen ist nichts anderes als eine Nabelschau vor dem Spiegel. Deswegen finde ich das so anschlussfähig an unsere Zeit. Da denkt ja eigentlich noch keiner drüber nach normalerweise, mit 22 – der junge Händel schon. Aber das Ganze wird dann transformiert in einen so tollen Fluss mit diesem unglaublichen Ende, der dich dann total wegholt aus dem Alltag. Händel hat das in einer Art und Weise so unkonventionell gelöst, dass ich das immer wieder faszinierend finde.

Wie übersetzt sich das in Ihre Inszenierung? Was sehe ich? Und noch viel wichtiger: Was fühle ich?

Mein Bild ist eigentlich immer: der Tunnel. (Lacht.) Eine Erfahrung, bei der du einsteigst und dann dabeibleibst. Bei der du dich wirklich einlässt auf die Geschichte, auf den Kern der Musik, und gar nicht möchtest, dass es zu Ende geht. Wer Il Trionfo erlebt, der möchte mehr davon. Das ist so meine Wunschvorstellung, das ist gelungenes Konzertdesign – im besten Fall.

Wenn man reinkommt, gleich zu Anfang, sieht man Sturmwellen, die auf den Strand zurollen, mit einer ganz tollen Energie. Und man hat das Gefühl, das ist eigentlich auch unendlich. In der ganzen ersten Szenesieht man nur ein wogendes Weizenfeld, was ein wahnsinnig schönes Bild ist: reifer Weizen, der sich im Wind bewegt. Und man weiß aber: Bald ist es vorbei, denn dann kommt der Dreschflegel. Und das Korn wird gemäht und dann ist wieder Steppe. Es gibt einfach Bilder, bewegte Bilder, die einladen, sich in diese Gedankenwelt zu begeben.

Vielleicht kennen viele Menschen sogenannte Vanitas-Bilder. Das war seit Beginn des 17. Jahrhunderts schwer in Mode in der bildenden Kunst, und hat sich relativ lange gehalten. Weil der Tod eine andere Präsenz hatte als heute. Und nicht „outgesourct“ war in irgendwelche Pflegeheime oder Hospize. Er war alltäglich, die Kindersterblichkeit war bei 50 Prozent, jede Reise war lebensgefährlich, jeder Ritt außerhalb der Stadt, außerhalb befestigter Mauern war gefährlich, jedes Fieber war gefährlich. Und ich habe im Grunde diese Ästhetik aufgegriffen. Auf den Gemälden ist die umgeworfene Karaffe mit dem letzten angetrockneten Weinfleck, bei mir sieht man das Ausgießen der Karaffe. Wir sind unmittelbar dabei beim Verstreichen der Zeit. Beim Zerfließen von Sand, beim Schmelzen von Eis. Alles Prozesse, die endlich sind. Bis auf die Zeit, denn die endet nie.

Jetzt habe ich also dieses Interview gelesen und bin ganz begeistert von Händel nach dem, was Sie gesagt haben und bin auch ganz begeistert von Ihnen und kauf mir eine Karte, sitz‘ im Konzert, die Instrumente werden gestimmt, gleich geht es los. Normalerweise hör ich einfach zu, zuhören kann ich. Aber heute ist nicht normal. Hätte ich mich vorbereiten müssen? Muss ich etwas tun, damit das, was Sie machen, funktioniert?

Nein! Sie müssen sich einfach nur drauf einlassen und sich manchmal in diese Bilder versenken. Das reicht, um diese Geschichte zu verstehen. Zusammen mit der Musik und mit den Bildern ergibt sich da eine ganz eigene Welt. Und Sie sind herzlich willkommen! Sie müssen sich einfach da reinbegeben und darauf einlassen.